Nachdenkliches von Hartmut Traub
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Nachdenkliches zum neuen Gedenkort
von Dr. Hartmut Traub, Neffe eines NS-"Euthanasie"-Opfers

Neben der Anerkennung und dem Dank, die den bürgerschaftlichen und politischen Initiatoren der Errichtung der neuen Gedenk- und Informationsstätte zum Massenmord an den ca. 300.000 Opfern der NS- „Euthanasie“ ausgesprochen wurden, begleitet dieses Ereignis auch Kritik. Diese richtet sich vor allem gegen die künstlerische Gestaltung des Denkmals, das aus einer etwa 30 Meter langen Wand aus blauen Glasplatten besteht. Diese erstreckt sich, in eine Mulde gebettet, unmittelbar neben dem ocker-gelben Gebäude der Berliner Philharmonie. Ein „Deo-Denkmal“ kritteln die einen (Bundesvereinigung der Psychiatrieerfahrenen). Nicht zu verwechseln mit dem Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener, Anm. S. Falkenstein

Ratlosigkeit herrscht bei anderen. („Die Wand generiert Aufmerksamkeit, nur: Was sagt sie dem Betrachter?“ Stephan Speicher „Eine Blaue Wand aus Glas“, Süddeutsche Zeitung vom 02. September 2014). Die Kunst ist frei, nach eigenem Ausdruck zu suchen. Deswegen enthalten sich Dritte überhaupt eines Urteils zur Gestaltung des Gedenkens an diesem Ort und reduzieren sich – wie bei Kunst üblich – auf die einfache Alternative „gefällt mir – gefällt mir nicht.“ Künstler weigern sich zurecht, ihren Werken wohlfeile und für jedermann nachvollziehbare Deutungen überzustülpen. Das Werk soll selber sprechen. Auf die sensible Einbildungs- und Deutungskraft des Betrachters oder Zuhörers, kann, will und darf die Kunst dabei aber nicht verzichten. Das gilt in besonderer Weise für ein Kunstwerk, das als Denkmal die ausdrückliche Aufforderung zur Nachdenklichkeit enthält.

Die folgenden Deutungsaspekte zur Gestaltung des Denkmals zum Gedenken an die Opfer der NS- „Euthanasie“ sind Resultate meines ganz persönlichen Nachdenkens über die in seiner künstlerischen Gestaltung angelegte Symbolik. Manches lehnt sich an das an, was ich dazu schon gehört und gelesen habe. Meine Sammlung von Denk-Punkten erhebt daher selbstverständlich keinen Anspruch auf Exklusivität. Vielleicht hilft sie aber, bei einem Denkmal von dieser Bedeutung etwas länger gedanklich zu verharren, um über die schnelle Kritik oder die ästhetische Ratlosigkeit hinwegzukommen und dem Ereignis, dessen hier gedacht werden soll, den ihm gebührenden Respekt zu verschaffen.

Die Mulde – Vertiefung

Um an das Denkmal zu gelangen, muss sich der Betrachter vom Gehsteig seines alltäglichen Wandelns in eine Vertiefung, in die Mulde, von der aus sich die blaue Wand erstreckt, begeben. Man kann die Mulde als den Eindruck verstehen, den uns der Gang der Geschichte an diesem Ort hinterlassen hat. Unauslöschlich ist hier, Tiergartenstraße 4, die Erinnerung an die Schaltstelle der Massenvernichtung – die „T4“- Zentrale – in den Erdboden Berlins und das Gedächtnis der Geschichte eingedrückt. In diese Senke der Geschichte musst du hinunter, wenn du das Verbrechen erkennen und verstehen willst, das von hier ausging.

Die Wand – Trennung

Die Blaue Wand, der Mittelpunkt des Denkmals, ist an sich symbolträchtig genug. Es gibt sichtbare und unsichtbare Wände. Gerade Berlin, die Stadt, durch die fast 40 Jahre lang eine Mauer der Trennung verlief, müsste wissen, was Wände in Geschichte und Gesellschaft bedeuten. Diesseits und jenseits zu stehen und leben zu müssen: Ein- und Ausgrenzung, Diskriminierung, Gettoisierung. Die Symbolik der Wand lässt sich aktualisieren und auf vielfältige Weise, gesellschafts- und sozialpolitisch, kultur- und bildungspolitisch, deuten.

An diesem Ort des Gedenkens zentriert sich das Allgemeine der Ausgrenzung, das Wände kennzeichnet, auf mindestens zwei Phänomene. Zum einen auf die Ausgrenzung und Vernichtung von 300.000 unerwünschten Menschen, Frauen, Männer und Kinder, denen eine rassistische Ideologie das Recht auf Leben bestritt. Ausgegrenzt aus der Gesellschaft, verschlossen hinter den Wänden der sogenannten Heil- und Pflegeanstalten, vegetierten sie über Jahre dahin, kamen auf Todeslisten und wurden ermordet. Zum anderen trennte diese Opfergruppe über Jahrzehnte eine Wand des Vergessens. Abgetrennt und ausgeschlossen von politischer, gesellschaftlicher und oft auch familiärer Anerkennung.

Durchsichtigkeit

Weder der nationalsozialistischen Abschiebung, Isolierung und Vernichtung noch der Nachkriegsgeschichte ist es gelungen, die Wände der Trennung blickdicht zu verschließen. Bischof Graf von Galen und andere haben durch und hinter die Wand der Ausgrenzung und Ermordung der Opfer der NS-„Euthanasie“ gesehen und diesen Durchblick öffentlich gemacht. Auch in den Nachkriegsjahren ist ihre Geschichte nicht ganz dem Vergessen anheimgefallen. Und für die gegenwärtige Gesellschaft gilt, dass auch sie – wenn auch nicht immer klar – durch die sichtbaren und unsichtbaren Wände moderner Diskriminierung das Elend ihrer Ausgrenzungen erkennen kann.

Bläue

Das Sehen-Können der Ausgegrenzten und die Erfahrung, Wände der Trennung durchdringen und überwinden zu können, ist ein Zeichen der Hoffnung. Deren Symbolfarbe ist die Bläue. Sie kann auch – wie der offene Himmel – für eine offene Gesellschaft stehen.

Der Ort der Kunst

Vielleicht war es ein besonderer Wink der Vorsehung, dass in direkter Nachbarschaft zum Denkmal ein Haus der Kunst errichtet wurde. Die Philharmonie. Damit sich das, was in Gesellschaften als Wände der Trennungen und Ausgrenzungen zementiert ist, nicht weiter verhärtet, sondern Wege gefunden werden, sie abzubauen und zu überwinden, dazu bedarf es bisweilen oder womöglich vor allem der Kraft der Phantasie, auch der politischen Phantasie, der politischen Kunst und Initiative. Insofern verweisen beide Orte, der des Gedenkens und der der Kunst sinnig aufeinander. Wobei die Komplementarität der Farbgebung ihrer beiden Gebäude – gelb und blau –als konstruktive, nicht nur ästhetische Verweisung, sondern auch als Appell verstanden werden kann.

Ich bin den Initiatoren und Künstlern für die Realisierung dieses Denkmals als einer Aufforderung zum Denken und Gedenken dankbar und wünsche dem Ort, den Platz in unserem kollektiven Gedächtnis, der ihm in historischer und gegenwärtiger Besinnung gebührt.

Traub, Hartmut: Ein Stolperstein für Benjamin Klartext Verlag, Essen 2013

     Frankfurter Rundschau, 25.3.2020, " Interview mit H. Traub: "Die Recherchen waren schwer zu ertragen"


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