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Gedenken an Friedel Bieber (1926 – 1943)
Opfer von Zwangssterilisation und „Euthanasie“
 

 

© Foto: Familienbesitz


Es ist nun an uns Nachgeborenen, die Erinnerung wach zu halten, denn es gibt kein Verständnis von Gegenwart und Zukunft ohne Erinnerung an die Vergangenheit.

Vorwort

Als ich im November 2018 in der Gedenkstätte Hadamar aus meinem Buch "Annas Spuren" las, ahnte ich nichts von meiner engen familiären Verbindung zu diesem speziellen Ort. 2003 hatte das Schicksal meiner Tante Anna Lehnkering, die 1940 in der Gaskammer von Grafeneck ermordet worden war, den Anstoß zu meiner Erinnerungsarbeit gegeben. Anna war die Schwester meines Vaters. Im Frühjahr 2023 kontaktierte mich ein bis dahin unbekannter Verwandter aus der Familie meiner Mutter, der im Internet auf meine Website gestoßen war. Und nun erfuhr ich zum zweiten Mal in meinem Leben völlig überraschend, dass ein Verwandter Opfer von Zwangssterilisation und "Euthanasie" geworden war. Er hieß Friedel Bieber und war der Sohn einer Cousine meiner Mutter.

Im Laufe der nächsten Monate ergab sich ein reger Gedanken- und Informationsaustausch mit meinen "neuen" Verwandten, und schließlich ermöglichte Friedels Akte aus Hadamar, seinen Weg in Umrissen nachzuzeichnen.

Bei der Arbeit an der Biografie sind mir die zahlreichen Parallelen zwischen Friedels und Annas Geschichten sehr nahe gegangen. Und so ganz lässt mich nicht los, dass es diese schlimmen Geschehnisse gleich in beiden Familien – väterlicher- und mütterlicherseits – gab. Vielleicht hatte Götz Aly doch recht, als er in seinem Buch "Die Belasteten" schrieb: "Heute ist von den erwachsenen Deutschen jeder achte direkt mit einem Menschen verwandt, der den "Euthanasie"-Morden zum Opfer fiel." Ich fand das damals etwas übertrieben, aber wenn es mich gleich zweimal betrifft, könnte an der Statistik ja durchaus was dran sein.

Mit dieser Gedenkseite möchte ich - auch im Namen seiner engeren Familie - an Friedel erinnern. Ich danke auch dem Team der Gedenkstätte Hadamar und Robert Parzer vom Informations- und Gedenkportal Gedenkort-T4.eu dafür, dass sie die Lebensgeschichten von Opfern der NS-"Euthanasie" sichtbar machen.  (S. Falkenstein, 2023)

 

Friedel Bieber

Friedrich Bieber, genannt Friedel, wurde am 9. Januar 1926 in dem hessischen Dorf Hörbach in der Nähe von Herborn im Dillkreis geboren. Er starb am 11. März 1943 im Alter von siebzehn Jahren in der Heil- und Pflegeanstalt Hadamar bei Limburg an der Lahn.

Hadamar war eine von sechs Gasmordanstalten, in denen Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen sowie psychischen Erkrankungen während der "T4 Aktion" ermordet wurden. Diese erste systematische Massenmordaktion der Nationalsozialisten wurde 1941 zwar "offiziell" eingestellt, doch das Morden ging danach im Rahmen der "dezentralen Euthanasie" weiter. Unzählige Menschen wurden mittels überdosierter Medikamente, durch Mangelernährung oder unterlassene medizinische Versorgung getötet. Bis Kriegsende wurden allein in Hadamar fast 15.000 Menschen umgebracht - einer davon war Friedel Bieber.

Zuvor war er mehrere Jahre "Pflegling" in der Heilerziehungs- und Pflegeanstalt Scheuern bei Nassau an der Lahn. Ab 1941 diente die Einrichtung als "Zwischenanstalt" dazu, Tausende von Menschen in die Tötungsanstalten zu deportieren, weil man sie aufgrund von rassen- und erbbiologischen Wahnvorstellungen als "lebensunwert" betrachtete. Die meisten wurden wie Friedel in Hadamar umgebracht.

Die folgende Kurzfassung seiner Biografie basiert vor allem auf Informationen aus seiner Patientenakte, die im Archiv der Gedenkstätte Hadamar aufbewahrt wird. Außerdem haben Friedels Nichten, sowie eine Cousine und deren Familie aufschlussreiche Informationen aus dem Familiengedächtnis beigesteuert. Das alles wurde von seiner Großcousine Sigrid Falkenstein aufgezeichnet.

 

Familie Bieber

Friedels Vater Otto Bieber war Schlosser und arbeitete später als Brauer. Seine Mutter Erna Bieber, geborene Lehwalder, konnte wie so viele Frauen in der damaligen Zeit keinen Beruf erlernen. Ihre Arbeit in Haus und Hof verdient jedoch größte Anerkennung. Dazu kamen die Sorgen um ihren ältesten Sohn Friedel, die bereits mit seiner schwierigen Geburt begonnen hatten. Das Kind steckte im Geburtskanal fest, und die Hebamme weigerte sich, einen Arzt hinzuzuziehen. Nach heutigem Ermessen war vermutlich eine Sauerstoffunterversorgung verantwortlich für die Schädigung von Friedels Gehirn. Er hatte noch drei jüngere Geschwister. Im Sommer 1930 traf die Familie mit dem Tod von Friedels kleiner Schwester ein schwerer Schicksalsschlag. Mathildchen – wie sie genannt wurde - stürzte im Alter von eindreiviertel Jahren in einen Wäschezuber mit heißem Wasser und starb kurz danach an den Folgen der Verbrühungen. Später erschwerten der Krieg und die Tatsache, dass Otto Bieber bereits 1939 Soldat wurde, die Lage von Erna als alleinerziehende Mutter erheblich. Im Familiengedächtnis blieb haften, dass sie eine wirklich starke Frau war, die ihre Familie in der Abwesenheit des Vaters und Ehemanns mit liebevoll strenger Hand zusammenhielt.

Angesichts von Erna Biebers Lebensleistung ist der folgende Hinweis in Friedels Krankenblatt mehr als eine verleumderische und beleidigende Herabwürdigung. Im Hinblick auf die "Erblichkeit" seines Schwachsinns steht dort: "Nur bekannt, dass die Mutter nicht sehr intelligent sein soll." Natürlich wohnten in Friedels Heimatdorf Nachbarn, die ihm und seiner Familie zugetan waren. Aber es gab auch solche, die wegschauten – ob aus Angst oder Gleichgültigkeit sei dahingestellt. Und wie überall lebten dort Menschen, die von der Ideologie der Nazis und den rassenhygienischen Maßnahmen überzeugt waren. Um an Informationen über die Kranken und ihre Familien zu gelangen, bediente man sich eines perfiden Systems von Denunzianten. Es sind Einträge wie der über Erna Bieber, die deutlich machen, dass man die Akten mit Vorbehalt lesen muss, denn es sind Quellen, die überwiegend Sprache und Sicht der Täter widerspiegeln. Sie geben Zeugnis von dem Zeitgeist der nationalsozialistischen Rassenhygiene. Manches ist zwischen den Zeilen zu lesen und lässt nur spekulative Rückschlüsse zu.

Erna Bieber und ihre Kinder Friedel und Mathilde

© Foto: Familienbesitz
 

Anstalt Scheuern

Bis 1934 lebte Friedel bei seiner Familie in Hörbach. Er wird als ein gutmütiges, etwas ängstliches Kind beschrieben, dessen Entwicklung deutlich verzögert war. So lernte er erst spät gehen und sprechen und konnte dem Unterricht an der Hörbacher Volksschule nur schwer folgen. Heute würde man ihn wohl als lernbehindert bezeichnen.

Friedel war acht Jahre alt, als sein Leben eine einschneidende Veränderung erfuhr. Am 17. August 1934 wurde er in die Heilerziehungs- und Pflegeanstalt der Inneren Mission Scheuern bei Nassau an der Lahn eingewiesen. Es bleibt offen, ob Otto und Erna Bieber die Anstaltsschule als Chance für ihren Jungen ansahen oder ob sie genötigt wurden, Friedel dorthin zu bringen. Zuvor hatten sie mit ihm die Öffentliche Beratungsstelle für Nerven- und Gemütskranke des Dillkreises aufgesucht. In einem dort verfassten ärztlichen Zeugnis wurde Friedel attestiert, dass er bildungsfähig sei, aber nur in einer geeigneten Hilfsschule in der Anstalt gefördert werden könne. Bei der Aufnahme in Scheuern wurde für ihn die Diagnose "wahrscheinlich angeborener Schwachsinn erheblichen Grades (Imbezillität auf der Grenze der Idiotie)" erstellt. In der Folgezeit ging es immer wieder um die Frage, ob Friedels Schwachsinn angeboren oder erblich sei. Doch egal, um welche Erkrankung es sich handelte, ob sie erblich war oder nicht – nichts rechtfertigt das unermessliche Leid und Unrecht, das Friedel und seiner Familie zugefügt wurde.

Am Tag der Aufnahme in Scheuern wurde Friedel von Kopf bis Fuß vermessen. Die Auswüchse des Rassenwahns sind unübersehbar. Friedel hatte "blonde, glatte Haare und angewachsene Ohrläppchen". Auch der Abstand seiner Pupillen, die Maße seines Kopfes und vieles mehr wurden akribisch protokolliert. Alles in allem war er "gesund aussehend mit genügendem Ernährungszustand". Er war 124,5 cm groß und "im Hemd" 26,5 kg schwer. Kaum vorstellbar, wie belastend dieser Tag für den kleinen Jungen gewesen sein mag!

Laut seiner Krankenakte gewöhnte Friedel sich nach und nach in Scheuern ein, "kam allmählich herbei und spielte mit, hat sich an die anderen Pfleglinge und den Pfleger angeschlossen". Er sprach wenig, was nicht verwunderlich ist, denn er war nicht nur ein ausgesprochen schüchternes Kind, sondern wurde von den anderen schwer verstanden. Das lag vermutlich vor allem an seinem heimatlichen Dialekt, dem Westerwälder Platt. Die anderen lachten, wenn er ein Huhn als Hinkel und einen Hahn als Gickel bezeichnete. Aber Friedel blieb "gleichmütig", wenn sie sich über ihn lustig machten und war "im Ganzen artig, folgsam, verträglich, … isst alleine, manierlich, wäscht sich selbst, putzt sich die Zähne, geht selbst auf den Abort". Das Leben in Scheuern stand unter ständiger Beobachtung. So ist in den Unterlagen festgehalten, dass Friedel "kein Interesse an Mädchen habe und es wurden auch keine verdächtigen Knabenfreundschaften und keine Onanie beobachtet". Es gibt Positives zu berichten: "Er ist sehr viel lebhafter geworden, schwätzt viel, erzählt viel. Er ist zwar noch immer in der Vorschule, wird aber geistig immer lebendiger, hat gelernt hochdeutsch zu sprechen." Doch mit der Schule hatte Friedel nach wie vor Probleme. Im Herbst 1936 – er war seit etwa zwei Jahren in Scheuern – ist in seiner Akte vermerkt, dass er die 4. Klasse im zweiten Jahr besuche, "… kann nicht zusammenhängend lesen, … schreibt aber mit schöner Schrift fehlerlos ab. Im Rechnen ist B. sehr schwach".

Die Angehörigen litten unter der Trennung und ließen den Kontakt zu Friedel nicht abreißen. Sie besuchten ihn, schickten Briefe und Päckchen. Sie vermissten ihn so sehr, dass sie 1936 um seine Beurlaubung zu Weihnachten baten. Der folgende Eintrag in Friedels Krankenblatt zeugt davon, dass auch er unglücklich war und Heimweh hatte: "Wenn der Pfleger vom Urlaub spricht, fing er an zu weinen. Er weinte auch, wenn ihm ein Brief des Vaters vorgelesen wurde. Bekam er ein Paket geschickt, so hatte er Tränen in den Augen."

 

Von Scheuern nach Hörbach und zurück

Nach einigem Bedenken befürwortete der Anstaltsarzt schließlich Friedels Urlaub mit dem absurden Hinweis: „Es handelt sich um einen erst 10 Jahre alten geistesschwachen Jungen, bei dem eine Fortpflanzungsgefahr nicht besteht. Wir befürworten deshalb eine Urlaubsbewilligung.“ Die Erlaubnis war an die Bedingung geknüpft, Friedel einen Tag nach Weihnachten in die Anstalt zurückzubringen. Aber die Familie ignorierte die Anordnung und beschloss, Friedel nicht mehr in die Anstalt zurückzubringen. Wochenlange Auseinandersetzungen mit verschiedenen Behörden folgten. Die Eltern blieben jedoch hartnäckig und gaben nicht auf. Schließlich wurde Friedel im März 1937 offiziell aus der Anstalt Scheuern entlassen. Er war inzwischen elf Jahre alt. Ihm blieben noch vier Jahre in seinem Hörbacher Zuhause.

Die Situation innerhalb der Dorfgemeinschaft war nicht immer einfach. Wenn Friedel gehänselt wurde, reagierte er manchmal aufbrausend, was zu Beschwerden führte. Auch in der unmittelbaren Verwandtschaft zeigten sich Probleme. Ein Onkel, der nicht im Krieg war, verprügelte Friedel in der Überzeugung, ihn vom Schwachsinn "kurieren" zu können. Prügel als „Heilungsmethoden" und Erziehungsmaßnahmen – es macht wütend und fassungslos!

Friedels Mutter, die seit Kriegsbeginn außer Friedel noch einen dreijährigen Sohn und eine zehnjährige Tochter alleine zu versorgen hatte, wurde bedrängt, dass ihr Sohn in Scheuern besser und "geschützter" aufgehoben sei. So nahm das Schicksal seinen Lauf. Am 1. November 1941 wurde Friedel zum zweiten Mal in die Anstalt Scheuern eingewiesen. Bei seiner Aufnahme erfolgte eine erneute ärztliche Begutachtung. Friedel war inzwischen 15 Jahre alt, 160 cm groß und wog 45,3 kg. Außer der Tatsache, dass er in allen Bewegungen langsam war, gab es keine körperlichen Auffälligkeiten. Seine Gemütsart wird als "zeitweise heftig" beschrieben; intellektuell bezeichnet man ihn als "stumpf". Die Erziehung im Elternhaus habe ihm "viel Freiheit" gegeben, was an dieser Stelle einen ziemlich negativen Beigeschmack hat.

Friedel war inzwischen tief in die Maschinerie der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik geraten. In Scheuern hatte man bereits anlässlich seiner Entlassung 1937 beim Gesundheitsamt des Dillkreises die Meldung erstattet, dass Friedel "erbkrank" sei und im Hinblick auf die Bestimmungen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses darum gebeten "die Sterilisierungsangelegenheit weiter zu bearbeiten". Friedel galt nach den Maßstäben der Erb- und Rassenhygieniker als "wertlos für die Volksgemeinschaft". Damit war sein Schicksal besiegelt. Im Dezember 1941 erfolgte der Beschluss des Erbgesundheitsgerichts in Limburg an der Lahn in der „Erbgesundheitssache Friedrich Bieber". "Der Friedrich Bieber ist unfruchtbar zu machen." Als Begründung wurde angeführt, dass der Betroffene an "angeborenem hochgradigen Schwachsinn" leide. Weiter heißt es, er mache einen "stumpfen, apathischen Eindruck". Außerdem sei er "bildungsunfähig und die Erlernung eines Berufes unmöglich". Wie widersprüchlich! Noch wenige Wochen zuvor hatte der Amtsarzt in Sinn bestätigt, Friedel sei "bildungsfähig und Bildungserfolg ist möglich". Am 27. Januar 1942, wenige Wochen nach seiner Aufnahme in Scheuern, wurde Friedel im Krankenhaus Henrietten-Theresen-Stift in Nassau zwangssterilisiert. Er war wenige Tage zuvor sechzehn Jahre alt geworden. Es ist eher unwahrscheinlich, dass er wusste, was mit ihm geschah.

"Im Sterbefalle bitte sofort Bescheid da Beerdigung nur auf dem Heimatfriedhof in Frage kommt." Was mag Friedels Mutter im April 1942 zu diesem Schreiben an die Anstaltsleitung in Scheuern bewogen haben? Hatte man sie vielleicht darüber informiert, dass es Friedel nicht gut ging? Im Juni 1942 ist in seiner Krankenakte vermerkt, er sei "äußerst antriebsarm, sitzt tagelang auf einem Fleck, ist zu keiner Beschäftigung zu bringen. Befolgt Aufforderungen erst nach mehrmaliger Wiederholung u. nur mit langsamen, mechanischen Bewegungen. Geht körperlich erheblich zurück." Im November des Jahres wurde notiert: "Immer das gleiche Bild des völlig stumpfen, interesse - u. antriebslosen Schwachsinnigen. War in den letzten Wochen wegen Scabies u. Mischinfekt im Krankenhaus der Anstalt." Scabies (Krätze) und Infektionen schwächten Friedels Körper und lassen Rückschlüsse auf die elendige, menschenunwürdige Lage in der Anstalt zu. Auf der Website der Stiftung Scheuern ist Erschütterndes zu diesen "Vorhof des Todes" lesen. https://www.stiftung-scheuern.de/ueber-uns

 

Tod in Hadamar

Im Februar 1943 wurden innerhalb weniger Tage 172 Patienten und Patientinnen von Scheuern nach Hadamar verlegt. Auch Erna Bieber erhielt eine Benachrichtigung über die Verlegung ihres Sohnes. Wusste oder ahnte Friedels Familie, dass die Landesheilanstalt Hadamar eine Tötungsanstalt war? Es wäre möglich, denn trotz aller Bemühungen um Geheimhaltung kursierten längst Gerüchte über die Vorgänge in Hadamar und anderswo. Dichte Rauchwolken aus dem Krematorium und der Geruch von verbrannten Leichen, der sich über der ganzen Gegend verbreitete, ließen sich nicht verheimlichen.

Nach den Erzählungen von Friedels Cousine hat seine Mutter ihn kurz vor seinem Tod noch einmal in Hadamar besucht. Friedel habe die ganze Zeit herzerweichend geweint und sie inständig gebeten, ihn wieder mit nach Hause zu nehmen. Erna habe vergeblich versucht, ihren Sohn aus der Anstalt zu holen und sei bei dem Versuch beinahe selbst in Schwierigkeiten geraten. Welch unvorstellbares Leid!

Friedel überlebte seine Einweisung in die Tötungsanstalt nur um wenige Wochen. Am 11. März 1943 wurde in seine Akte eingetragen: "Eltern sind seit Tagen im Bilde, daß es mit dem Jungen zu Ende geht." Die letzte Eintragung lautet: "Verfiel in den letzten Tagen rapide. Heute exitus an Marasmus." Die Feststellung der Todesursache durch den Arzt lässt darauf schließen, dass Friedel verhungert ist, denn Marasmus ist eine schwere Erkrankung, die in Folge chronischer Mangelernährung entsteht. Die Umstände von Friedels Tod wurden wie üblich verschleiert. Angeblich starb er an Entkräftung bei Lungenentzündung. Der Standesbeamte in Hadamar beurkundete, dass Friedel am 11.3.1943 um 12 Uhr gestorben ist. Es folgt eine bürokratische Auflistung: "a) Idiotie b) Entkräftg. c) Herzschwäche d) Entkr. b. Lungenentzdg."

Friedels Leichnam wurde anschließend auf Kosten der Familie von einem in Hörbach ansässigen Bauunternehmer mit einem LKW in sein Heimatdorf überführt. Er wurde am 14. März 1943 auf dem dortigen Friedhof beerdigt. Laut Familienüberlieferung brach ein Bruder von Friedels Vater die Versiegelung am Sarg und stellte fest, dass sich Friedels Leichnam tatsächlich im Sarg befand. Der Vorgang zeugt von erheblichem Misstrauen seitens der Familie und spricht dafür, dass sie zumindest ahnten, was in Hadamar vor sich ging.

In Friedels Todesanzeige deutet nichts darauf hin. "Heute mittag 12 Uhr entschlief nach langem, schwerem Leiden unser lieber Sohn, Bruder und Enkel Friedel Bieber im 18. Lebensjahr. In tiefer Trauer Familie Otto Bieber und alle Verwandten." Einen solchen Text in die Zeitung zu setzen, setzen zu müssen, obwohl man weiß, dass es ganz anders war, ist bitter. Jeder noch so versteckte Hinweis hätte vermutlich unabsehbare Folgen für die Familie nach sich gezogen. Kein Wunder, dass man in den meisten Familien schwieg, wenn das damalige "System" es sogar im Fall der eher widerständigen Familie Bieber schaffte, Angst zu erzeugen.

 

Erinnerung an Friedel

Im Unterschied zu anderen betroffenen Familien war Friedels Schicksal in seiner engeren Familie niemals ein Tabu. Seine Eltern – vor allem die Mutter - sprachen immer offen über die Geschehnisse. Erna und Otto Bieber starben beide hochbetagt in den neunziger Jahren. Der Schmerz über Friedels Tod, der Schmerz über den Tod von zwei weiteren Kindern, begleitete sie bis an ihr Lebensende.

Friedels Nichten und Cousinen haben das Vermächtnis ihrer Eltern und Großeltern angenommen und dafür gesorgt, dass ihre Nachkommen über die Familiengeschichte Bescheid wissen. Die Erzählungen haben in den nachfolgenden Generationen Sprachlosigkeit, Betroffenheit und auch Trauer ausgelöst. Im weiteren Familienkreis wurde dagegen wenig oder gar nicht über Friedel gesprochen. Ich bin eine Großcousine von Friedel und habe erst 2023 per Zufall von den schrecklichen Vorkommnissen in meiner Familie mütterlicherseits erfahren. Eine tragische Verkettung von Zufällen – zwanzig Jahre zuvor hatte ich ebenfalls völlig überraschend entdeckt, dass meine Tante Anna Lehnkering, die Schwester meines Vaters, 1941 in der Gaskammer von Grafeneck ermordet worden war. Seitdem erzähle ich Annas Geschichte und nun auch die von Friedel.

Warum aber ist es nötig, Annas und Friedels Geschichten mehr als achtzig Jahre nach ihrem Tod zu erzählen? Wir können und müssen aus der Geschichte lernen. Friedel und Anna lebten in einer Gesellschaft, in der viele Menschen ihre Ausgrenzung und schließlich ihren Tod stillschweigend hingenommen haben. In Zeiten, in denen menschenverachtende Ideologien in unserem Land zunehmend an Boden gewinnen, ist es daher besonders wichtig, die Erinnerung an die Vergangenheit wachzuhalten – in der Hoffnung, dass sich Derartiges nie wiederholen möge!

Sigrid Falkenstein, Dezember 2023

(im Namen der Angehörigen)


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