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Erinnerungsarbeit von Angehörigen
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"Euthanasie" und Zwangssterilisation - Schweigen, Verdrängen und Tabuisieren in den Familien Das Schicksal meiner Tante Anna Lehnkering wurde jahrzehntelang in der Familie verschwiegen und verdrängt - typisch für das Verhalten in vielen Familien. Wenn ich Annas Namen nicht zufällig auf einer Liste von Opfern der NS-"Euthanasie" im Internet gefunden hätte, wüsste ich wohl immer noch nicht, dass man sie 1940 in der Gaskammer von Grafeneck ermordet hat. Heute weiß ich, welch unvorstellbares Unrecht ihr geschehen ist. Das Totschweigen der Vernichtung war Teil des Unrechts. Ich habe in meiner Familie erlebt, dass Schweigen krankmachen, die Aufarbeitung der Vergangenheit dagegen heilsam sein kann. Im Laufe der Jahre hatte ich Kontakt zu zahlreichen betroffenen Angehörigen, die diese Erkenntnis bestätigt haben. Viele haben das Schweigen in ihren Familien als eine Last empfunden. Doch nach meinem Eindruck begeben sich immer mehr Familienmitglieder der zweiten und dritten Generation auf Spurensuche und arbeiten die Lebensgeschichten ihrer ermordeten Verwandten auf. Nicht selten setzen sie sich damit gegen immer noch existierende Widerstände über die jahrzehntelange Tabuisierung des Themas in ihren Familien und in der Gesellschaft hinweg. - siehe Schweigen und Verdrängen nach 1945 Der Umgang mit "Euthanasie" und Zwangssterilisation in den betroffenen Familien ist teilweise bis heute geprägt von Unsicherheit (Ist die Krankheit erblich?), von Scham (Leben mit dem Stigma der "erblichen Minderwertigkeit") und Schuld (Warum haben wir unsere Angehörigen nicht geschützt? Warum haben wir geschwiegen?). Ich halte es nicht nur im Interesse der betroffenen Familien sondern in dem unserer gesamten Gesellschaft für äußerst wichtig, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Es geht uns alle an, denn eigentlich gibt es doch in jeder Familie Mitglieder, die auf die eine oder andere Art und Weise gesundheitliche Schwächen haben oder nicht der Norm entsprechen. Eine Krankheit - ob angeboren oder erworben - ist weder ein Grund zur Scham noch zum Verschweigen. Im Gegenteil - wenn wir viele Geschichten wie die von Anna erzählen, bekämpfen wir damit nicht nur die Diskriminierung der Opfer, sondern setzen zugleich ein Signal gegen die Stigmatisierung und Ausgrenzung derjenigen, die heute von Behinderungen oder psychischen Erkrankungen betroffen sind. Nach 1945 gab es eine Vielzahl von Ursachen, die der Vergangenheitsbewältigung in den Familien im Weg standen. Unter anderem waren es Archivregelungen und unsägliche Datenschutzbestimmungen, die die Namensnennung von Euthanasieopfern und damit die Aufarbeitung für betroffene Angehörige jahrzehntelang erschwert bzw. verhindert haben. Das Thema der Namensnennung war für mich von Anfang an bedeutsam, und ich habe mich auf verschiedene Art und Weise darum bemüht, betroffene Angehörige zu erreichen. Dabei spielte das virtuelle Informations- und Gedenkportal www.gedenkort-t4.eu eine wichtige Rolle. Wesentlicher Bestandteil dieser Website ist die Erinnerung an die die Opfer, die durch inzwischen fast 200 Biografien (Std. 2022) wachgehalten wird. 2011 wurde dort mein Aufruf an Angehörige veröffentlicht, in dem ich um ihre Unterstützung bat.
2013 folgte dann ein erneutes Plädoyer für die Freigabe der Namen von Opfern der NS-„Euthanasie". Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass es 2020 nochmal nötig werden würde, mit einem Plädoyer von Angehörigen zur Namensnennung an die Öffentlichkeit zu gehen. In dem Zusammenhang möchte ich auf das 2013 erschienene Buch des Historikers Götz Aly "Die Belasteten" hinweisen. In dieser Gesellschaftsgeschichte legt Aly dar, dass nicht wenige Angehörige den Mord an ihren behinderten Kindern, Geschwistern, Vätern und Müttern als Befreiung von einer Last stillschweigend hinnahmen, und er zeigt auf, welche Spuren das bis heute hinterlassen hat. - siehe Namensnennung
Zunehmende Erinnerungsarbeit von Angehörigen Nach meinem Wissensstand war der 1997 gegründete Gesprächskreis in der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Wehnen eine der ersten Gedenk- und Erinnerungsinitiativen, die von Betroffenen und Angehörigen ausging. - Weitere Infos zum Gedenkkreis Wehnen e.V. Anna Lehnkering war meine Tante, also eine ganz nahe Angehörige. Ihr Schicksal und das Schweigen danach hat mich im Innersten berührt. Die Erinnerung an sie war und ist mir eine Herzensangelegenheit. Initiativen wie die in Wehnen waren zu Beginn meiner Spurensuche Anfang der 2000er Jahre eine Ausnahme und der Kontakt zu anderen Angehörigen kaum möglich. Erst nachdem ich meine Gedenkseite für Anna im Internet veröffentlicht hatte, kam es zu zahlreichen Kontakten. Es macht mich im Rückblick sehr froh, dass Annas Geschichte und meine Erinnerungsarbeit dazu beigetragen konnten, dass inzwischen viele "vergessene" Opfer Namen und Gesicht zurückerhalten haben. - siehe Gedenkzeichen für Anna Anbetracht des langjährigen gesellschaftlichen und familiären Schweigens möchte ich besonders das frühe Engagement von Hans-Ulrich Dapp und Antje Kosemund hervorheben und würdigen. Sie gehörten zu den Ersten, die das Schweigen brachen. Hans-Ulrich Dapp veröffentlichte 1990 das Buch "Emma Z - Ein Opfer der Euthanasie". Darin schildert er den Lebensweg seiner Großmutter, die im Rahmen der "Aktion T4" in der Gaskammer von Grafeneck ermordet wurde. Antje Kosemund begann bereits in den achtziger Jahren Informationen über das Schicksal ihrer Schwester Irma Sperling zu sammeln und zu veröffentlichen. Irma war dreizehn Jahre alt, als sie 1944 in der Wiener Kinderfachabteilung "Am Spiegelgrund" ermordet wurde. 2011 erschien A. Kosemunds Buch "Sperlingskinder: Faschismus und Nachkrieg: Vergessen ist Verweigerung der Erinnerung!" Inzwischen nimmt die Anzahl der Familienangehörigen stetig zu, die ihre Familiengeschichten bzw. die Lebensgeschichten ihrer ermordeten Familienmitglieder recherchieren und darüber berichten - immer öfter auch in Buchform. Eine der jüngsten Angehörigen ist Julia Gilfert. Sie veröffentlichte 2022 das Buch Himmel voller Schweigen, in dem sie die Geschichte ihres Großvaters Walter Frick erzählt. Walter Frick - ein Name von Hunderttausenden - sein Schicksal macht jenseits von Zahlenkolonnen und Akten abstrakte Geschichte begreifbar. Julias Buch berührt die Herzen und bewegt hoffentlich etwas in den Köpfen. Hier einige Beispiele von vielen, die zeigen, dass die Perspektive der Opfer und ihrer Angehörigen inzwischen stärker in das öffentliche Blickfeld gerückt ist:
Hilfe für Angehörige Auf folgenden Internetseiten wird Angehörigen Unterstützung angeboten, wenn es um Fragen zur Recherche etc. geht. Leider gibt es in dieser Hinsicht noch zu wenige Angebote. Biografische Arbeit von Angehörigen in Buchform Die Listen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Die Malerin Hannah Bischof hat eine außergewöhnliche Erinnerung für ihre Großmutter Maria Fenski geschaffen. »Von Papenburg nach Neuruppin – Zyklus für Maria« nennt sie die sechzehn beeindruckenden Gemälde, die als Ausstellung bereits an verschiedenen Orten in Deutschland gezeigt wurden.
Biografien online und in der Presse
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